Kapitel 13
DIE LETZTE FLASCHE …
Ich sah mich verstohlen um. War Maria vielleicht schon da?
Zur Seite öffnete sich ein Raum mit einer langen Reihe von Fenstern, doch die Kiefern auf dem Grundstück schirmten die Abendsonne verlässlich ab. Im Halbdunkel erkannte ich ein Atelier. Der Teppichboden war übersät mit ausgedrückten Farbtuben, an das einzige Möbel mitten im Raum, ein Sofa, lehnten kleinere und größere Leinwände. Gearbeitet wurde aktuell an einem Gemälde auf einer Staffelei, darauf bislang nicht viel mehr als ein paar grobe Pinselhiebe. Beim Näherkommen meinte ich eine menschliche Figur zu erkennen, vielleicht ein Rücken und ein Kopf mit zerzausten Haaren. Deutlich plastischer war der Körper, der mir unter einem Stapel Zeitungen auf dem Sofa entgegenleuchtete: ein draller Busen auf einem Zeitschriftencover. Ich zog das Heft hervor, Extasy hieß es.
You like?“ Roman stand hinter mir.
Noch ehe ich antworten konnte, hatte er weitere Hefte hervorgezaubert und drückte sie mir in die Hand. "Helps you learn Polish!“, sagte er und grinste breit.
Durchs Fenster sah ich Eva, die noch einmal zum Auto zurückgegangen war, weil sie die Tüten mit den Einweckgläsern vergessen hatte – vielleicht waren die in diesem Städtchen vor den Toren Warschaus Mangelware. Sie winkte mir zu. Ich rollte schnell die Hefte zusammen und schob sie zwischen zwei Kissen.
Es befand sich noch jemand im Raum. Hinter einem hüfthohen Raumteiler wieselte ein älterer Mann in kariertem Hemd um einen Tisch herum. Beflissen platzierte er Teller und Gläser, zwischendurch wischte er immer wieder mit der flachen Hand über die Plastiktischdecke.
Ich nickte in seine Richtung, worauf Roman erklärte: "My Dad.“
Der Vater legte eine armdicke Wurst und ein großes Messer auf den Tisch. Dazu kamen noch zwei Flaschen: eine mit gelber, eine mit grünlicher Flüssigkeit. Zum ersten Mal sah uns der alte Mann an, wobei er beständig durch eine unförmige braune Hornbrille zwinkerte. Dann öffnete er seine Hände, ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Das Mahl war bereitet.
In diesem Moment flog die Tür auf, und Eva stürmte herein. Roman winkte sie heran, aber das war gar nicht nötig, sie stolperte mit wehendem Rock direkt auf uns zu. Denn gleich hinter ihr war eine Dogge, ein riesiges stahlblaues Tier, das mit seiner Schnauze in Evas Rockfalten hing. Während ich mich fragte, wo dieser Hund auf einmal herkam, fiel Eva Roman in die Arme und schlug wie ein Pferd mit einem Bein nach hinten aus. Roman dirigierte mit einer Hand den Hund zur Seite und hielt mit der anderen Eva umfasst. Er verteilte routiniert seine Küsschen, nahm ihr die Tüten ab und führte sie zum Tisch. Ich folgte.
Romans Vater schnappte sich als Erstes Evas Hand und setzte schmatzend einen Kuss darauf. Flugs zog er einen Stuhl zurück, und Eva ließ sich darauf fallen. Mir wurde bedeutet, dass für mich die Bank auf der anderen Seite des Tisches bestimmt war. Dort konnte der Hund endlich auch mich beschnuppern.
"Nero“, sagte Roman und zog das Tier unter dem Tisch hervor. Das war dann wohl sein Name. Nero hielt den Kopf gesenkt und drückte sich an sein Herrchen. Der Vater säbelte währenddessen an der Salami herum, um alsdann die Scheiben mit dem Messer aufgespießt in die Runde zu geben. Auch die Gläser wurden befüllt, jeder hatte ein großes für das gelbe und ein kleines für das grünliche Getränk. Der Hund hatte sich unter den Tisch gelegt.
Roman, noch auf der Salami kauend, erhob das kleine Glas und deklamierte: "Żubrówka! Good.“ Er grinste.
Ich sah Eva fragend an, die zeigte auf den langen Halm in der blassgrünen Flüssigkeit. Das Etikett zeigte einen Bison.
„Wódka“, erklärte der Vater, unablässig blinzelnd.
So weit war alles klar. Die Männer leerten ihre Gläser und nahmen gleich danach einen Schluck aus dem anderen Glas.
"Good“, bestätigte Roman noch einmal. Dann sah er mich erwartungsvoll an. Also nahm ich einen grünen Schluck. Brennen und leicht fauliger Geschmack waren schon eine irre Kombination. Roman nickte verständnisvoll und drückte mir die pissgelbe Essenz in die Hand. "Drink!“, sagte er. Ich tat wie befohlen, und mit einem Schlag war alles gut. Das Brennen gelöscht, die Geschmacksnerven betört von klebriger Süße.
"You see.“ Roman strahlte. Er zündete sich eine Zigarette an. Caro stand auf der zerknautschten Packung.
"Was zum Teufel ist das?“, fragte ich Eva.
Sie ließ das Wurststück sinken, an dem sie unsichtbare Pelle abpuhlte, und sah mich ihrerseits fragend an. "Was?“
"Der Wodka!“
"Ach so, das. Ist das Bisongras. Ein Halm. Für das Aroma. Polnische Spezialität.“
Roman lachte und sagte irgendetwas.
Auch Eva musste lachen. "Sagt Roman, muss der Bison erst auf das Gras pinkeln. Dann der Wodka ist am besten.“
"Good“, sagte Roman ein drittes Mal und nickte heftig. "Żubrówka!“
Ich wollte mir die Flasche noch einmal genauer ansehen, aber der Vater hatte sie schon wieder in der Hand und füllte die kleinen Gläser. Auch meins, obwohl noch nicht leer, wurde auf den alten Füllstand gebracht.
Eva war erst bei der Limo angekommen und schüttelte sich, als wäre das der Alkohol."Grässlich“, sagte sie, "aber gut. Geht es nicht ohne das Nachtrinken.“ Sie ließ das Wurststück im Mund verschwinden. "Und nicht ohne Basis.“
Also folgte ich dem Beispiel. Die Wurst war so fettig, dass meine Finger glänzten. Und schön salzig. Gut gegen den Zuckergeschmack im Mund.
"Prosit“, sagte Eva und hielt nun wieder das kleine Glas in der Hand.
"Yes“, sagte Roman. Er warf den Kopf nach hinten und kippte den Inhalt.
Ich brauchte drei Schlucke, um das Glas diesmal ganz zu leeren, und es kostete mich einige Kraft. Zur Belohnung gab es von Romans Vater eine dicke Scheibe Brot.
Ich beugte mich zu Eva. "Meinst du, sie kommt noch?“
"Wer?“
"Du hast doch gesagt, dass Maria auch kommen würde.“
"Ach so.“ Eva stibitzte Romans Zigarettenpackung.
"Also kommt sie noch?“
Sie balancierte eine Caro zwischen den Fingern, und Roman gab ihr Feuer. Er selbst zündete sich auch eine an.
"Musst du noch ein paar Wodka trinken, Schätzchen.“ Eva deutete auf Romans Vater, unseren Mundschenk. "Weißt du jetzt, wie es geht.“
Womit meine Frage natürlich nicht beantwortet war.
Roman sagte irgendetwas zu Eva. Die lachte und zeigte mit dem Finger auf mich. Roman hustete mehr, als dass er lachte und redete dann mit seinem Vater. Aber der war schon wieder mit dem Ausschenken beschäftigt und sagte nichts.
Routiniert bewältigten alle die nächste Runde.
Anschließend verkündete Eva, halb hustend, halb kichernd: "Sagt Roman, sind die polnischen Mädchen die besten.“
Roman zeichnete mit seinen Händen Kurven in die Luft und lachte dröhnend.
"Liebt er die Mädchen“, erklärte Eva, "liebt er die Kunst. Und am besten beides zusammen.“
Sie hakte sich bei ihm unter und brachte einen seiner Arme damit zum Stillstand. Die Asche von seiner Fluppe fiel auf den Tisch. Eva lächelte ihn von der Seite an.
"Nicht wahr, Romaneczku?“, säuselte sie.
Doch er war schon wieder mit Salami und Brot, Wodka und Limo beschäftigt, wenn auch einarmig. Eva und Roman waren auch so zwei, aus deren Verhältnis man nicht schlau wurde.
"Hallo!“
Ich drehte mich um. Und da war sie, endlich. Maria stand hinter mir, winkte lächelnd in die Runde, Nero an ihrer Seite. Sie hatte die Haare hochgesteckt, nur die Spitzen hatten sich nicht bändigen lassen, und sie sah damit fast noch betörender aus als vorgestern im Restaurant.
"Maria“, sagte Roman mit rollendem R. Er streckte seine freie Hand nach ihr aus, und sie ging zu ihm.
"Hi“, sagte ich.
"Ist sie nicht süß“, sagte Eva und hielt weiter Romans Arm umklammert.
Maria und Roman tauschten die drei Küsschen, und Roman zog an der Stirnseite einen Hocker unter dem Tisch hervor.
Erst als Maria saß, sah sie mich an und lächelte. "Hallo Thomas.“ Im Ausschnitt ihrer Bluse leuchtete der kleine Schwan. Mein Gesicht glühte.
Ich wollte etwas sagen, aber es kam kein Ton heraus. Räuspern, neuer Anlauf: "Hallo!“
Maria lächelte unverändert. "Wie geht es dir?“
"Super. Schön, dass du da bist.“
Maria sah mich verwundert an.
"Ich habe gestern und heute versucht, dich in der Galerie zu erreichen. Aber leider …“
"Oh, ich hatte frei.“
"Ich hatte mich gefragt, ob du auch eingeladen bist.“
"Eingeladen?“ Jetzt lachte sie. "Bei Roman ist immer geöffnet. Du kannst kommen, wenn du nur willst.“
"Ich wollte dich wirklich gerne wiedersehen.“
"Maria!“ Es war Roman. Er zeigte auf die zwei Gläser vor ihr, die sein Vater gerade befüllte. Damit war auch für alle anderen das Signal gegeben, zum Wodka zu greifen. Roman brachte diesmal sogar dröhnend einen Trinkspruch aus. Dann tranken alle, erst das Grüne, dann das Gelbe. Maria lächelte wieder.
"Was hat er gesagt?“, fragte ich Eva.
"Ein Hoch auf die schönen Mädchen.“ Sie schmiegte sich an Romans starken Oberarm.
Ich sah Maria an, die sich gerade die Finger ableckte, wahrscheinlich wegen der fettigen Wurst.
"War echt ein schöner Abend vorgestern“, flüsterte ich ihr zu.
"In Polen ist gut zu feiern, richtig?“ Sie hielt das Wodkaglas in der Hand. Es war schon wieder gefüllt.
"Sollten wir unbedingt wiederholen. Was meinst du?“
Maria beobachtete Romans Vater, der gerade eine neue Flasche öffnete.
"Die letzte Flasche“, kicherte Eva. "Maria, ist das doch die letzte Flasche?“ Aber warum sollte ausgerechnet sie das wissen.
"Die letzte“, sagte Maria und nickte grinsend.
"Ja“, sagte Eva und zu mir gewandt: "Können wir erst gehen, wenn die letzte Flasche leer ist. Darf ein guter Gastgeber seine Gäste nicht vorher gehen lassen. Serviert er immer bis zur letzten Flasche.“
Ich nickte. Leuchtete ein, irgendwie.
"Genossen!“, rief Roman plötzlich. Er hielt ein dünnes Heft in der Hand. Mit dem anderen Arm ruderte er in der Luft, zwischen den Fingern eine Kippe. "Lasst unss …“ Er stockte. Erst jetzt fiel mir auf, dass er Deutsch sprach. "Lasst unss … die Frreundschaft … zwiszen unsseren Völkern … stärrken!“
Roman brach in schallendes Gelächter aus, prostete Maria und mir zu. Maria knuffte mich in die Seite, dann musste auch ich lachen.
Eva nahm Roman das Heft aus der Hand und betrachtete den Umschlag. "Unterwegs in den Bruderstaaten. Kleiner Sprachführer Völkerverständigung.“
Ich leerte das kleine Glas. Husten. Lachen. Weiter ging’s.
Roman hielt das Heft nun vor sich wie ein Opernsänger seine Partitur. In der anderen Hand nun die Wodka-Flasche. "Fürr den Frieden, fürr die Ernte, fürr den Ssieg dess Korns!“
"Für den Wodka!“, rief Maria lachend.
Romans Vater, der gewiss außer Wodka kein Wort verstand, versuchte, Roman die Flasche zu entwinden. Aber der presste sie an seine Brust und starrte wieder in das Heft. "Sseid ihrr bereit, zurr bewaffneten Verteidigung derr Heimat?“ Er sah seinen Vater streng an, der nur noch leise vor sich hin grummelte und sich einstweilen mit Wurst und Brot begnügte. Eva und Maria applaudierten, Roman verbeugte sich.
"Dawai, Roman!“ Eva kippte schnell nacheinander Wodka und Limo, lachte, keuchte. Roman klopfte ihr auf die Schulter.
Ich spürte, wie Maria unter dem Tisch mein Knie berührte. Ich war wie elektrisiert.
"So amüsieren sich Künstler“, sagte sie.
Ich ließ meine Hand das Bein hinuntergleiten – und bekam eine Hundeschnauze zu fassen. Begeistert schleckte Nero mich ab. Ich schob ihn zur Seite.
Maria hielt mir ihr Glas entgegen, ihre andere Hand lag auf dem Tisch. Schnell stieß ich mit ihr an. Grün, gelb, Salami.
Ich wollte gerade etwas sagen, da setzte Roman wieder an. "Frrreundschaft!“
"Genau! Freundschaft!“, rief Eva und zwinkerte mir zu.
"Freundschaft“, sagte Maria in die Runde. Als sie sich mir zuwandte, funkelten ihre grünen Augen.
"Ja“, sagte ich. Der Ellenbogen auf der Tischplatte gab mir Halt. Selbst auf den Zivi-Lehrgängen in der Eifel, wo es ja auch schon ganz ordentlich zur Sache gegangen war, hatten wir es etwas langsamer angehen lassen.
Romans Vater schob die Flasche zur Seite, war sie etwa auch schon wieder leer? Jedenfalls ging er vor einem Bücherregal in die Hocke, um hinter einer Reihe Lexika einen weiteren Żubrówka hervorzuziehen.
"Ist das jetzt aber die allerletzte Flasche“, erklärte Eva, und Roman nickte, als ob er verstanden hätte. Romans Vater verteilte routiniert die nächste Runde.
Wurst gab’s keine mehr, zum Glück aber noch Limo.
Ich beugte mich zu Maria, sagte: "Hast du schon Pläne für morgen?“
Sie senkte den Kopf, hauchte: "Jetzt nicht.“
"Wir gehen, wohin du willst …“
Maria drückte mir ihren Zeigefinger auf die Lippen. "Thomas, das sollten wir nicht mehr.“ Kaum merkbar schüttelte sie den Kopf.
Ich versuchte, ihre dunkler gewordenen Augen zu ergründen. Sie sah mich unverwandt an.
"Sind wir auch noch da!“, hörte ich Eva krakeelen.
"Maria“, brummte Roman.
Jetzt erkannte ich es: Das Leuchten fehlte. In ihren Augen lag Traurigkeit.
Ich wollte nach ihrer Hand greifen, aber Maria wich zurück.
"Ich werde dich anrufen“, sagte sie noch, dann drehte sie sich den anderen zu. Eine Locke hatte sich gelöst und hing ihr ins Gesicht.
Alle hatten wieder gefüllte Gläser vor sich. Die grüne Flüssigkeit erinnerte mich auf einmal an das Wasser in unserem aufgegebenen Schulaquarium.
"Ist Thomas schon ein richtiger Künstler“, schnatterte Eva. "Trinkt er wie ein Künstler.“
Roman schaute sie fragend an.
"Auf die Künstler!“, rief Eva und kippte das Brackwasser.
Ich konnte nicht mehr. Was war los mit Maria? Hatte ich etwas Falsches gesagt? Warum war sie auf einmal so abweisend? Sie trug doch den kleinen Schwan um den Hals, hatte mich angelächelt. Wollte sie mich nicht wiedersehen? Nachdem unser erster Abend so überwältigend gewesen war?
Ich brauchte einen Wodka.
Roman fing meinen Blick auf. "Yes, yes“, sagte er, als könnte er Gedanken lesen. Er gab seinem Vater einen Stoß in die Rippen, und prompt war ich wieder versorgt.
"To my friend“, rief er, das Glas schwebte über seinem Kopf, "Thomas!“
Wir kippten Glas eins, nippten an Glas zwei.
"Roman!“ Eva erhob sich mühsam. "Roman, zeig uns …“
Er hatte die allerletzte Wodkaflasche in der Hand und prüfte gerade den Füllstand. "No, no. Not good.“
"Die Bilder. You show. Paintings.“
"No“, sagte Maria, „not now.“
"Show paintings!“ Eva stand jetzt hinter ihrem Stuhl und hielt sich an der Lehne fest. Sie nickte, als wollte sie sich selbst zustimmen.
"Not good“, sagte Roman und knallte die Flasche auf den Tisch. War sie leer?
"No“, sagte Maria.
"Thomas artist“, sagte Eva, stockte, sah Maria hilfesuchend an, dann fuhr sie fort: "Ist Thomas doch auch Künstler. Fotografiert er. Soll Roman ihm seine Bilder zeigen. Show, Roman!“
"Dziadku!“ Roman gab seinem Vater einen weiteren Stoß in die Seite und hielt ihm die umgedrehte Flasche – sie war leer - vors Gesicht. Der wusste auch diesmal sofort, was von ihm erwartet wurde. Er schlurfte zum Sofa.
Eva strahlte. "Yes. Paintings.“
Roman strahlte auch. "Yes, yes, dziadku.“ Er blickte seinem Vater nach.
Der Alte kramte hinter dem Sofa herum, dann erhob er sich. Mit beiden Händen streckte er eine Flasche in die Höhe, langsam und würdevoll. Ein Strahlen lag in seinem Gesicht.
"Last bottle“, sagte Roman, "you see.“
"Die allerletzte Flasche“, kicherte Eva, "die allerallerletzte.“
"Very last bottle.“ Roman nickte zufrieden.
"Ja“, rief Eva und versuchte, Roman vom Stuhl hochzuziehen. "Aber jetzt paintings.“
Eva zerrte, und tatsächlich, Roman setzte sich in Bewegung.
Auch an meinem Arm machte sich jemand zu schaffen. Maria. Sie drückte ihn ziemlich fest, sie saß kerzengerade, und so blieb auch ich sitzen.
Der Vater hatte inzwischen die heilige Wandlung vollzogen, er ließ die Flasche sinken, und vielleicht war aus dem Wodka nun Wein oder Blut oder auch Büffelpisse geworden. Er schien auf jeden Fall entschlossen, den Jüngern auszuschenken, und umrundete, die Flasche vor seiner Brust, das Sofa. Blöderweise waren auch hinten ans Sofa Bilder gelehnt, und die standen der Liturgie im Wege. Der Stapel kippte ihm entgegen, der Alte schwankte, wand sich, hielt aber sein Heiligtum weiter mit beiden Händen umklammert. Er tänzelte zwischen den Bildern, von denen einige zurück gegen das Sofa knallten, einige aber vor seine Füße rutschten. Dann knackte etwas.
Wie vom Schlag getroffen blieb Roman stehen. Erst streifte er Evas Hand von seinem Arm, dann trabte er los. Mit einer rudernden Bewegung schob er seinen Vater zur Seite, um hinter dem Sofa auf die Knie zu sinken.
Niemand sagte etwas. Der Alte blickte Roman über die Schulter, Eva war auch näher gekommen. Nero hatte sich neben sein Herrchen gesetzt.
Schließlich hob Roman ein Stück Keilrahmen in die Höhe. Die Leinwand hing nach unten, beschwert von einem abgebrochenen Holzstück. Ich sah nur die Rückseite, auf die einzelne schwarze Buchstaben gepinselt waren: Romans Name und das Wort Akt.
Da das Geschehen sich ja nun hinter das Sofa verlagert hatte, stemmte ich mich von der Tischplatte hoch, atmete einmal tief durch und war schließlich bereit für den Gang zum Sofa. Ich schaffte es bis zu den anderen und war froh, dass Eva nach meinem Arm griff, obwohl auch sie ein wenig schwankte, dabei aber unentwegt säuselnd auf Roman einredete. Der hockte weiter auf dem Boden. Er griff mit den Fingern unter die Leinwand und zog sie vom zerbrochenen Keilrahmen ab. Dann legte er das Bild auf den Boden und strich mit beiden Händen darüber. Die Leinwand hatte mehrere Knicke, aber das Motiv war trotzdem klar zu erkennen: ein nacktes Mädchen. Von vorne. Und es hatte Locken, erstaunlich fein gemalt. Es war Maria.
Ich blickte zum Tisch. Aber Maria war nicht mehr da.